Schlittenhund oder Schlittenhund?

Kaum ein Thema regt bei Mushern in Kontinentaleuropa mehr Emotionen als die Frage, welcher Hundetyp ist ein «richtiger» Schlittenhund. Obwohl wir alle denselben Sport ausüben, demselben Virus verfallen sind, kann diese Frage nicht so einfach beantwortet werden. Muss sie denn überhaupt beantwortet werden können? Zwei Sichtweisen, welche unterschiedlicher nicht sein könnten — und trotzdem finden sich Gemeinsamkeiten:)

Reinrassig? reinrassig

Das Dilemma

Das Hound– oder Schlappohren–Thema als zitatgeschwängerte Toleranzphilosophievorlesung zu gestalten ist eine kreative Variante, aber sorry, ich lass mich nicht erwischen! Denn wenn einer im Universum der Tierhalter tolerant ist, dann bin ich es, als glühender Verfechter des radikalen Konstruktivismus (in Wikipedia bestens erklärt) gibt es für mich keine Wahrheit, alles ist Konstruktion, Kommunikation ist Strategie, es gibt sie nicht, DIE Welt, ich konstruiere sie und übernehme meine volle Verantwortung für diese meine Konstruktion.

Geschichte ist, mit dieser Sichtweise betrachtet, eine Konstruktion aus ausgewählten Fakten der Vergangenheit, mit einer bestimmten strategischen Absicht, die wir in der Gegenwart verfolgen. Und um Geschichte geht es, wenn unsere bösen Kommentare und bissigen Bemerkungen zu Hounds und Schlappohren fallen. Und wir wollen unsere gegenwärtige Position festigen. Mit Intoleranz hat das überhaupt nichts zu tun.

Lasst uns, liebe Hound-Musher, jedoch weiter lästern! Bitte, seid so tolerant und lasst uns diesen Spass! Wir, die Hardcore-Zurückgebliebenen Stehohren-Reinrässeler konstruieren eben unsere Geschichte so, dass wir unsere Gegenwart weiterhin ertragen: Stellt euch mal vor, was wir alles auf uns nehmen, nur um unsere Leidenschaft rechtzufertigen für den direkten, zugegeben etwas verzüchteten Nachkomme des nordischen Arbeits-Spitzhundes.

Wir sind nicht ganz Hugo!

Das sieht jeder Zuschauer, der genau hinschaut, wenn zuerst ein Houndteam eingespannt und gestartet wird, anschliessend dasselbe mit einem Sammy-, Siberian Husky-, Gröni- oder Malamutenteam gemacht wird: Die Hounds kannst du in einem Schafszaun als Rudel frei rumtänzeln bzw. artig artspezifisch artgerecht spielen lassen, dann sagst du was Weniges, und sie stehen ein, lassen sich anschnallen, und hopp, hochmotiviert gehts los. Wir sind unter uns, peinlich peinlich: Schau doch mal, wie lange ich brauche, um meinem Wuffel von der dicken Kette weg das Geschirr anzuziehen! Und bis sie dann auf Touren kommen, shit und soo langsam! Nach wievielen Jahren? Bestens hochschulabsolviert verhaltenstherapeutisch geschult, gewaschen mit allen skinnerschen Tricks... Noch Fragen?

Lieber Luzi, lass uns doch wenigstens diesen Spass: Zu lästern, dass der Paulus zum Saulus geworden ist, die Pauline zur Sauline! Und lass uns unseren letzten Strohhalm, an welchen wir unsere Unvernunft klammern: Wir glauben daran, dass wir, nur wir, die Vertreter der Reinrassigen, die richtigen Schlittenhündeler sind! Die Schlittenhundeführer. Ihr seid die Hundeschlittenführer. Ihr spannt einen Hund vor das Ding. Wir spannen das Ding hinter einen alten nordischen Schneehund-Schlittenhund. Lasst uns doch diese Konstruktion. Sie tut uns gut. Kein Problem, bemitleidet uns tolerant-grosszügig, ihr habt sie hinter euch gebracht, die Geschichte der Illusion über die alten Nordischen, sturen, verzüchteten, sowieso nicht mehr reinrassigen dickfelligen wärmeanfälligen HD- und augengeschädigten Walt-Disney-Kreaturen, die Illusion über das romantisierte pseudo-sibirische Kunstprodukt der zwangsneurotisch verreglementierten helvetischen, europäischen, ja globalen Hundevereinskultur. Ich gratuliere zu dieser Befreiung und gebe zu, dass ich hoffnungslos meiner Geschichtskonstruktion verfallen bin und alles daransetzen werde, diese Wahrheit des Schneehund-Schlittenhundes aufrechtzuerhalten, wenns anders nicht geht mit Schlappohrengeläster, auf eure Kosten. Voll intolerant!

© by Ueli Gerber

Das Dilemma der Reinrassigen liegt darin, dass sie gleich an vier Fronten kämpfen müssen. Und das ist noch keinem gut bekommen.

Begonnen hat das Ganze 1930, als man sich entschloss, den Siberian Husky beim AKC (American Kennel Club) registrieren zu lassen. Fortan war der Genpool offiziell geschlossen und das bei einer viel zu kleinen Zuchtbasis. Das konnte aus biologischen und mathematischen Gründen nicht funktionieren.

Eben weil es nicht funktionierte, fing man an, fremdes Blut einzukreuzen. Das war biologisch sinnvoll, züchterisch aber katastrophal, weil es nicht offiziell erfolgte und die tatsächlichen Ahnen nicht nachzuvollziehen waren. Ausserdem erfolgten die Einkreuzungen nicht auf ein gemeinsames Ziel gerichtet, sondern auch noch konträr: Mal in Richtung Show (mit Alaskan Malamutes und Samojeden), mal in Richtung Leistung (mit Alaskan Huskies, neuerdings sogar Hounds).

Parallel zum (ungewollten) Leistungsniedergang wurde der «Mythos» erfunden, der Absatzmärkte bei Romantikern sicherte. Das neue Problem: Die gelieferte Ware entsprach nicht den Versprechungen. Die Hunde wurden zur Verpackung ohne Inhalt. Die Lösung suchte man darin, leistungsfähigere Hunde aus der Konkurrenz auszuschliessen.

Die vierte Front entstand, weil sich die Konkurrenz der leistungsstärkeren Hunde zwar intern vermeiden liess, ihre Existenz aber nicht zu leugnen war. Der wirtschaftlich begründete Schwund an Schlittenhundefahrern in beiden Lagern führte schliesslich zum Zusammenschluss der Verbände und ihrer Rennveranstaltungen und damit zu einer ständigen Demonstration der Unterlegenheit, deren Ursachen unter Dilemma 1 und 2 beschrieben sind.

Die letzten Gefechte um die Existenzberechtigung reinrassiger Schlittenhunde werden nun mit hilflosen Argumenten wie "... aber die Zuschauer wollen sie sehen!" geführt. Das Makabre an der Geschichte: Die oben geschilderten Dilemmata haben dazu geführt, dass der Siberian Husky weder reinrassig noch konkurrenzfähig ist.

Zum Thema konkurrenzfähig: Wenn ich mich recht erinnere, wurde der Siberian Husky 1909 nach Alaska importiert, um Rennen zu gewinnen. Das ist der Ursprung des Mythos und daran muss sich der Siberian Husky messen lassen. Und weiter frage ich mich schon lange, wie es möglich ist, dass ein Hund, der seit zig-tausend Jahren für den Einsatz vor dem Schlitten gezüchtet wird (so kann man es doch immer lesen, oder?), von ein paar zusammengewürfelten Gebrauchshunden zu schlagen ist, die bis auf die letzten Generationen nie mit dem Gedanken an Zugarbeit selektiert wurden.

© by Hendrik Pape